Peter Koch
Schon verschiedentlich hat sich Klaus Hunnius kritisch zum Begriff des français parlé und insbesondere zu dem Etikett français avancé geäußert ¿ auch in Anwendung auf das français populaire (Hunnius 1975; 1988; 1993). Kürzlich ist nun in dieser Zeitschrift eine erneute nachdrückliche Stellungnahme hierzu erschienen (Hunnius 2003). Diesmal geht es vor allem um die verbreitete Parallelisierung von Vulgärlatein und français parlé, aus der eine «universalistisch orientierte und auf Sprachimmanenz bedachte Linguistik» [511] falsche Schlussfolgerungen für die Erforschung von Sprachvarietäten und Sprachwandel ziehe. Hunnius erkennt zwar an [510 s.], dass beide Sprachformen erstens gleichermaßen durch allgemein-sprechsprachliche Merkmale gekennzeichnet sind (cf. Stefenelli 1992b; Koch 1995) und zweitens vergleichbare Quellenprobleme hinsichtlich ihrer diachronischen Rekonstruktion bieten (cf. Ernst 1980; Oesterreicher 1995; Koch 2003b). Er insistiert jedoch darauf, dass der Verlauf der Geschichte des Vulgärlateins (einschließlich des Übergangs zu den romanischen Sprachen) eher einen Ausnahmefall als einen Modellfall darstelle. Dementsprechend warnt er davor, diesen Fall als paradigmatische Folie für andere Varietätensituationen (wie insbesondere diejenige des français parlé) zu verwenden und so «das uneingeschränkte Dogma von der Progressivität gesprochener Sprache und dem Konservatismus der Schriftsprache» [513 s.] aufrechtzuerhalten, das er als «altes, aber nicht unproblematisches Erbe junggrammatischer Tradition» [513] ansieht. Die Anwendung des Diglossie-Begriffs im Sinne Fergusons (1959) auf die lateinisch-romanische Sprach- und Varietätengeschichte wird als moderner Ableger dieses Dogmas interpretiert [514].